„Das Schreiben ist bekannt und wurde berücksichtigt.“
So wird die Senatorin für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Dilek Kalayci, vom politischen Fernsehmagazin PANORAMA am 17. Dezember zitiert. Befragt wurde die Senatorin zu einem Brandbrief von Ärztinnen und Ärzten des Krankenhauses des Maßregelvollzugs (KMV) in Reinickendorf an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller. Die ärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten sich hilfesuchend am 30. Juli 2020 an den Senatschef gewandt, nachdem weder die Krankenhausleitung noch die Gesundheitssenatorin seit Anfang 2020 auf ihre Eingaben reagierten.
Berliner Zustände
Der Fernsehbericht „Maßregelvollzug: Gewaltexzess statt Therapie“ geht auf die Zustandsbeschreibungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein. Sie gipfeln in der Feststellung: „Aus ärztlicher Sicht können wir, die die Verantwortung für die Behandlung der Patienten, aber auch eine Fürsorgepflicht gegenüber unseren Mitarbeitern haben, diese nicht mehr übernehmen.“ Die Senatorin wird in dem an sie gerichtetem Schreiben mit den Sätzen konfrontiert: „Wir sind gezwungen, auch sehr gefährliche Patienten auf personell unterbesetzten und räumlich ungeeigneten Stationen zu betreuen. Regelmäßig zeigen sich Kollegen aus anderen Bundesländern erschüttert über die ‚Berliner Zustände‘.“
Tickende Zeitbombe
Zusammen mit dem ARD-Magazin PANORAMA hat die Wochenzeitung DIE ZEIT monatelang recherchiert. Sie beschreibt in der Ausgabe vom 17. Dezember 2020 einem ganzseitigen Artikel „Tickende Zeitbombe“ die wiederholten Alarmmeldungen der ärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im KMV. Es wird berichtet, dass die Redaktion der ZEIT bis zum Redaktionsschluss auf sämtliche Fragen an die Gesundheitssenatorin zu den Vorhaltungen der Beschäftigten keine Antworten erhielt.
Dem Magazin PANORAMA gegenüber wurden jedoch Personalmangel, eine schwierige Bewerberlage, ein Anstieg der Einweisungen und Ausfälle von therapeutischen Angeboten eingeräumt. Die angegebenen Zahlen für die Übergriffe auf das Personal (2019: 180; 2020: bisher 300) konnte die Gesundheitsverwaltung nicht nachvollziehen. Dann teilte die Verwaltung mit, sie stehe „vor der Aufgabe weitere Vollzugsplätze zu schaffen“. Die Zahl der Isolierräume habe man erhöht. Außerdem strebe man eine Gesetzesänderung an, um den Anstieg der teils unsinnigen Einweisungen zu bremsen.
Gesetzesänderungen
Das Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) ist die zentrale Einrichtung des Landes Berlin, in der die durch ein Strafgericht oder Jugendgericht angeordneten freiheitsentziehenden Maßnahmen der Besserung und Sicherung nach § 63 StGB – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus – und § 64 StGB – Unterbringung in einer Entziehungsanstalt – sowie nach § 126a StPO die einstweilige Unterbringung vollstreckt und vollzogen werden.
Die Anordnungsvoraussetzungen nach § 63 StGB sind 2016 vom Deutschen Bundestag konkretisiert worden, um unverhältnismäßige und unverhältnismäßig lange Unterbringungen zu vermeiden. Die Regelungen sollen fünf Jahre nach Inkrafttreten evaluiert werden. Derzeit liegt nach Auffassung der Bundesregierung für eine vorläufige Bewertung keine ausreichende Datenbasis vor.
Unter der Federführung des Bundesjustizministeriums tagt laut Auskunft der Pressestelle der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung seit Oktober 2020 eine Bund-Länderarbeitsgruppe zur Vorbereitung der Reform von § 64 StGB. Die Einrichtung der Arbeitsgruppe geht auf einen Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz von 2019 zurück. Mit einem ersten Beratungsergebnis rechnet die Berliner Gesundheitsverwaltung im Oktober 2021. Eine Gesetzesänderung könnte in den Jahren 2022/2023 in der nächsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages erfolgen.
Anhörung im Abgeordnetenhaus
Die Koalitionsfraktionen im Abgeordnetenhaus von Berlin (SPD, Die Linke, und Bündnis 90/Die Grünen) haben am 14. September 2020 den Vorsitzenden des Ausschusses für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Geschäftsordnung, Verbraucherschutz, Antidiskriminierung um eine Besprechung und Anhörung im Ausschuss mit dem Tagesordnungspunkt „Entwicklungen aktuelle Lage im Maßregelvollzug nach der Gesetzänderung im August 2016“ gebeten. Die Fraktion der FDP hat am 23. Dezember 2020 den Ausschussvorsitzenden gebeten, als Besprechungspunkt für die nächste Sitzung den Tagesordnungspunkt „Bewertung der Lage im Maßregelvollzug des Landes Berlin vor dem Hintergrund der jüngsten Warnungen leitender Mitarbeiter der entsprechenden Fachdienststelle(n) mit Ladung der Gesundheitssenatorin vorzusehen. Die Tagesordnung der Sitzung des Rechtsausschusses am 13. Januar 2021 berücksichtigt zu Tagesordnungspunkt 5 die Anliegen der FDP-Fraktion.
Maßregelvollzugsstatistik
Jeweils zum Stichtag 31. März wird statistisch erhoben, wieviel Personen in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt aufgrund strafgerichtlicher Anordnung untergebracht sind. Das Statistische Bundesamt veröffentlichte zuletzt am 26. Juni 2015 die Maßregelvollzugsstatistik für 2013. Am 31. Dezember 2013 waren in Berlin insgesamt 686 Personen untergebracht. Ende 2018 waren es laut Angaben der Gesundheitsverwaltung 568 und 682 im Jahresdurchschnitt 2019 nach den Recherchen der Wochenzeitung DIE ZEIT.
Der Wirtschaftsplan des KMV für 2021 geht von einer durchschnittlichen Patientenzahl von 680 aus. Dabei eingerechnet sind die ca. 120 Personen, die sich in externer Betreuung befinden, einige davon sind therapeutisch noch an ihre vorbehandelnde Abteilung/Station im KMV gebunden. Durchschnittlich 40 bereits gerichtlich entlassene Patienten werden in der Forensisch-Psychiatrischen Ambulanz des KMV betreut. Das Krankenhaus verfügt über 523 ordnungsbehördlich genehmigte Betten.
Sanierungen
Der Haushaltsplan 2021 des Landes Berlin sieht im Kapitel 0920 – Titel 89186 – die Sanierung des Hauses 5 des KMV vor. Die Baumaßnahme befindet sich seit 2018 in Finanzplanung und ist mit einem Haushaltsansatz von 1,6 Mio. Euro sowie für die Jahre 2022 und 2023 mit Verpflichtungsermächtigungen von insgesamt 3,1 Mio. Euro veranschlagt. Die Haushaltsmittel sich gesperrt, da zum Zeitpunkt der Haushaltsplanaufstellung die notwendigen Bauplanungsunterlagen dem Parlament nicht vorlagen. Einen Antrag auf Freigabe der Finanzmittel hat die Gesundheitsverwaltung noch nicht beim Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses vorgelegt. Ab dem Jahre 2023 ist die bauliche Sanierung des Hauses 7 mit 2,4 Mio. Euro geplant. Die Erneuerungen der Heizungsanlagen sowie der Frischwasser- und Hydrantenleitungen sind für 2021 bis 2023 nach dem Haushaltsplan ausfinanziert.
Personalausstattung
Der Wirtschaftsplan des Krankenhauses des Maßregelvollzugs sieht für 2021 einen Personalaufwand von 33,7 Mio. Euro vor. In der Stellenübersicht sind eine Planstelle für Beamte in der Besoldungsgruppe A 13S sowie 583 Stellen für Tarifbeschäftigte (2016: 581) ausgewiesen. An der Personalratswahl 2020 haben 554 Wahlberechtigte (2016: 572) teilgenommen. Die Stellenbesetzungsquote liegt damit bei rund 95 vom Hundert. Der monatliche Krankenstand beim KMV wird von der Verwaltung für Januar 2017 mit 13,66 % und für Dezember 2019 mit 14,35 % angegeben. Im Wirtschaftsplan wird nicht aufgeführt, welcher Personalaufwand für die unterschiedlichen Patientengruppen in den Abteilungen, Wohngemeinschaften und der Ambulanz des KMV nötig ist und wie er auf die Kostenstellen verteilt ist.
Krankenhausleitung
Das KMV wird durch die Krankenhausleitung geleitet, sie besteht aktuell aus vier Mitgliedern, und zwar aus der Ärztlichen Leitung, der Pflegedienstleiterin, dem Geschäftsleiter und dem Leiter der Serviceeinheit Sicherheit. Die Stelle der Ärztlichen Leitung ist zur Neubesetzung ab 1. Januar 2021 öffentlich ausgeschrieben. Die Bewerbungsfrist ist noch nicht abgelaufen. Der Ärztlichen Leitung obliegt die ärztliche Leitung des Krankenhausbetriebes. Die Ärztliche Leiterin bzw. der Ärztliche Leiter ist in dieser Funktion zugleich Vollzugsleiterin bzw. Vollzugsleiter und vertritt in dieser Verantwortung das KMV nach außen. Die ärztlichen sieben Teilvollzugsabteilungen sind der Ärztlichen Leitung gegenüber weisungsgebunden. Nach den Ausführungsvorschriften zu § 31 Sätze 2 bis 4 i.V. mit § 57 des Landeskrankenhausgesetzes (LKG) über das Krankenhaus des Maßregelvollzugs (AV-KMV) leitet die Krankenhausleitung das KMV selbständig und unter eigener Verantwortung.
Fachaufsicht
Die Fachaufsicht über das KMV ergibt sich aus § 31 des Landeskrankenhausgesetzes (LKG) und wird von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung – SenGPG – Referat I B Psychiatrie, Sucht und Gesundheitsfürsorge – wahrgenommen. Die Fachaufsicht erstreckt sich auf die rechts- und ordnungsgemäße Erledigung der Aufgaben und auf die zweckentsprechende Handhabung des Verwaltungsermessens. Der unmittelbaren Fachaufsicht unterliegen das KMV sowie die dort beschäftigten Personen bei der Durchführung der strafrechtsbezogenen Unterbringungen. Die Aufsichtsbehörde kann Auskünfte, Berichte, die Vorlage von Akten und sonstigen Unterlagen einfordern, Prüfungen anordnen, Einzelweisungen erteilen und eine Angelegenheit unmittelbar an sich ziehen, wenn eine erteilte Einzelweisung nicht befolgt wird. Eine Einsichtnahme in Krankenakten ist nur mit Zustimmung der jeweiligen untergebrachten Person zulässig. Das KMV hat den Vertretern bzw. Vertreterinnen der Aufsichtsbehörde jederzeit Zugang zu ihren Räumlichkeiten zu gewähren.
Zur Wahrnehmung der Fachaufsicht über die klinisch-forensische Einrichtung sind unaufgefordert der Aufsichtsbehörde regelmäßig Informationen zur Aufnahme (Aufnahmeersuchen und Urteil) und zur Entlassung (Entlassungsanordnung), zum Verlauf der Unterbringung, zur strafrechtsbezogenen Situation und zur Fortdauer der Unterbringung sowie zur Aufhebung der Unterbringungsanordnungen (Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer und der nach dem Jugendgerichtsgesetz zuständigen Gerichte) zu übermitteln. Für die Übermittlung der personenbezogenen Daten trägt die ärztliche Leitung der klinisch-forensischen Einrichtung die Verantwortung.
Behandlung
Das Behandlungskonzept des KMV wird auf der krankenhauseignen Website – www.berlin.de/kmv/behandlung/ – beschrieben. Es ist eine Kurzfassung. In der Beantwortung der schriftlichen Anfrage des Abgeordneten Sven Rissmann (CDU) vom 1. Februar 2019 (Abgeordnetenhaus-Drucksache 18/17499) sind weitere grundsätzliche Ausführungen enthalten. Dort heißt es: „Im Rahmen der strafrechtsbezogenen Unterbringung wird deutlich zwischen der Anlass-krankheit, die zur Erwartung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten (Gefährlichkeit) und als Konsequenz daraus zur Unterbringung geführt hat, und sonstigen Krankheiten (vgl. § 59PsychKG), die unabhängig von der Unterbringungssituation auftreten können, unter-schieden. Das spezifische Behandlungsangebot des psychiatrischen Krankenhauses wie der Entziehungsanstalt gilt zunächst ausschließlich dem in § 42 Absatz 2 PsychKG genannten Ziel der Verhinderung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten aufgrund der psychischen Krankheit, Störung oder Behinderung oder des Hanges zum Suchtmittel-missbrauch. Auch und gerade hinsichtlich der Behandlung der Anlasskrankheit gilt im Verhältnis der untergebrachten Person zur Einrichtung und den in ihr tätigen therapeutischen und anderen Beschäftigten öffentlichen Rechts. Die Patienten/Patientinnen unterliegen einem Behandlungs- und Eingliederungsplan nach § 55 PsychKG, auf den sie Anspruch haben. Der nach § 55 Absatz 1 PsychKG zu erstellende Behandlungsplan (vorläufiger Be-handlungsplan nach Satz 1 und Behandlungs- und Eingliederungsplan nach Satz 2) ist die Voraussetzung für ein zielführendes Therapieangebot zur Reduzierung der Gefährlichkeit. Er umfasst im Bereich der forensischen Psychiatrie alle vom Behandlungsteam geplanten und auf die untergebrachte Person einwirkenden Maßnahmen. Jeder untergebrachten Person ist eine/ein therapeutische/r Mitarbeiterin/Mitarbeiter, entweder Arzt/Ärztin oder Psychologe/Psychologin, als Einzeltherapeut/in zugordnet. Einzel-gespräche finden in der Regel wöchentlich statt. Darüber hinaus gibt es spezifische Gruppenangebote.“
Verantwortung für Gewaltereignisse
Es sind 49 Kommentare zum Fernsehbericht über die Verhältnisse im KMV, die von vielen Beschäftigten und ehemaligen Beschäftigten stammen, im Kommentarbereich des ARD-Magazins PANORAMA nachzulesen. Die Berichtdetails der Fernsehsendung werden eindrucksvoll bestätigt. Die Häufigkeit der Übergriffe auf das Personal wird übereinstimmend kritisiert. Eine tiefe Betroffenheit ist allen Kommentaren zu entnehmen. Selbst Jahre nach einer Tätigkeit im KMV sind ehemalige Krankenpflegekräfte oder Ärztinnen und Ärzte von der aktuellen Berichterstattung immer noch sehr persönlich involviert. Als einer der Hauptkritikpunkte wird das Verhalten der Klinikleitung nach den Übergriffen angeführt. Die Betroffenen erfahren keine Unterstützung bei der Bewältigung der Vorkommnisse. Völliges Unverständnis besteht in den Kommentierungen über die Reaktion der Klinikleitung zur Messerattacke eines Patienten am 7. Februar 2020 gegen eine Ärztin. Der Wiederholungstäter verletzte die Ärztin mit mehreren Schnittwunden. Die Therapeutin erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, das von der Staatsanwaltschaft Berlin als versuchter Totschlag angeklagt wurde. Als einzige Maßnahme auf diesen Vorfall ließ die Klinikleitung ein neues Hinweisschild „Durchgang verboten“ anbringen.
Die Gesamtzahl der Übergriffe auf das Personal schätzen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren Brandbriefen an die Klinikleitung, die Gesundheitssenatorin und den Regierenden Bürgermeister für 2019 auf 180 und für 2020 auf über 300 gemeldete Übergriffe. Die Gesundheitssenatorin äußerte sich erst nach wiederholten Nachfragen der Presse. Die Senatorin kann die Zahlenangaben „nicht nachvollziehen“ und verzichtet auf eigene Zusammenstellungen zu den Übergriffen auf das Personal. Das entspricht der Praxis der vergangenen Jahre. Unter ihrer politischen Verantwortung ist lediglich einmal aus Anlass einer parlamentarischen Anfrage zur Situation im Krankenhaus des Maßregelvollzugs des Abgeordneten Tim-Christopher Zeelen von der CDU-Fraktion (Drucksache 18/15975 des Abgeordnetenhauses von Berlin) im September 2018 eine konkrete Auflistung der Übergriffe erfolgt. Die Nachfrage zu den Übergriffen und Straftaten der Patienten ab 2013 beantwortete ihr ehemaliger Staatssekretär Boris Velter mit Zahlenangaben aus der Anzeigenerfassung in der polizeilichen Eingangsstatistik für die Führungskräfte der Berliner Polizei. Für das Jahr 2013 sind dort 74 Strafanzeigen und für 2017 105 Strafanzeigen mit Stand vom 30. August 2018 verzeichnet.
Eine Aufstellung über die Anzahl der Übergriffe im KMV, die nicht zur Anzeige gebracht worden sind, wird dem Parlament nicht vorgelegt, obwohl danach ausdrücklich gefragt worden ist. Das verwundert auch heute nicht. Denn der ehemalige Gesundheitsstaatssekretär gab bei der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage eine richtungsweisende Grundhaltung der Gesundheitsverwaltung zu den Übergriffen von Patienten auf das Personal preis. Er stellte die Übergriffe von Patienten auf das Personal in ein besonderes Beziehungsgeflecht zwischen Behandlungsauftrag und Sicherungsauftrag der Einrichtung des Maßregelvollzugs. Danach war für ihn die „Gegenwehr“ des Patienten in dem Spannungsfeld zwischen Behandlungsauftrag und Sicherungsauftrag, insbesondere bei der Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen, therapeutisch zulässig. Er ging zwar davon aus, dass die einzelnen Vorfälle – intern – statistisch auch als Gewalt gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des KMV erfasst werden. Beleidigungen sollten hingegen – intern – statistisch nur erfasst werden, wenn diese als Bedrohung aufgefasst werden könnten. In Abhängigkeit von der Deliktfähigkeit der Patienten sowie von Intensität und Inhalt der Gewalt sollten nach Auffassung des ehemaligen Gesundheitsstaatssekretärs dann gegebenenfalls Strafanzeigen gestellt werden. Staatssekretär Velter stellt ferner fest, dass die Ursachen für Straftaten gegen das Personal in der nicht freiwilligen Unterbringung der psychisch- und abhängigkeitskranken Patientinnen und Patienten in Verbindung mit den behandlungsbegleitenden Sicherungsmaßnahmen liegen. Und: Darüber hinaus ist ein Anstieg der Dissozialität der Patientinnen und Patienten des KMV festzustellen. Soll heißen, das Beschäftige mit einer deutlichen erhöhten Gefahrenlage rechnen müssen.
Diese grundsätzliche Haltung zu den Übergriffen von Patienten gegenüber dem Personal des KMV lässt erheblichen Spielraum für die Bewertung und – statistischen – Erfassung der Vorkommnisse. Die politische Spitze der Gesundheitsverwaltung hat somit Maßstäbe für die Erfassung, Auswertung und bei der Folgenabschätzung der Übergriffe gesetzt. Der von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschilderte besorgniserregende Anstieg der Übergriffe auf Beschäftigte ist deshalb nicht nur denkbar, sondern – höchstwahrscheinlich – entspricht er auch den tatsächlichen Gegebenheiten im KMV. Die politische Führung der Berliner Gesundheitsverwaltung hat ihre Grundsatzhaltung offensichtlich weder vor August 2018 noch in der Folgezeit umfassend kommuniziert. Die Brandbriefe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im vergangenen Jahr sprechen eindeutig für diese Annahme. Die ständig steigende Zahl der Übergriffe auf das Personal wurde mithin erwartet und wohl aus dem Spannungsfeld zwischen Behandlungsauftrag und Sicherungsauftrag heraus billigend in Kauf genommen, ohne das Personal umfassend über die ständig zunehmende Gefahrenlage mit den möglichen Risiken und Bedrohungen zu informieren. Ein von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern akzeptiertes System der systematischen und strukturellen Risikobeurteilung ist nicht bekannt. Auch muss ein ausgereiftes System an Gefährdungsbeurteilungen nach dem Arbeitsschutzgesetz völlig fehlen. Eine Vorbereitung des Personals auf Notfälle mit einem strukturiertem Notfallmanagement ist nicht erkennbar. Allgemeine und besondere Schutzmaßnahmen für das Personal sind nicht in ausreichendem Maße getroffen worden. Ein ungeheuerlicher Vorgang! Hier liegt schwerwiegendes Organisationsversagen aller Stellen vor, die verantwortlich mit dem Maßregelvollzug befasst sind.